Es ist dunkel, die Digitalanzeige meiner Smartphone-Uhr springt um eine Minute weiter. Eben dachte ich noch, ich hätte viel Zeit, jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Die Kompassnadel auf meiner Google Maps-Karte dreht sich seit ein paar Sekunden wie wild. Plötzlich zweifle ich daran, dass ich in die richtige Richtung laufe. Kann es sein, dass der Weg zum Busterminal durch eine Wohnstraße führt? Ich frage eine Frau, die gerade ihre Kinder in ein Auto verfrachtet. Sie versteht mich nicht. „Kein Wunder“, denke ich, „wir sind im französischen Teil der Stadt.“ Doch dann macht sie mir klar, das sie nicht aus Montréal ist. Zur Sprachbarriere gesellt sich also auch noch ihre Ortsunkenntnis. Ein Pärchen, das den Gehsteig entlangläuft, weiß ebenfalls nicht weiter. „Aber mach dir keine Sorgen, um diese Zeit sind noch viele Menschen unterwegs, die kannst Du fragen.“ Die Frau will freundlich sein. Ich auch. Ich lächle gequält und laufe weiter. Die Straße ist wie leergefegt. Ich kriege schlechte Laune. Ich schleiche unter der Last meines Gepäcks und zugleich rennt mir die Zeit davon.

Ich ahne, dass ich in die falsche Richtung laufe, aber ich will es nicht wahrhaben. Es darf nicht wahr sein! Ich schaue wieder auf die Uhr. In 15 Minuten fährt mein Bus.

Da! Ein Mann! Ich sehe ihn, als ich wieder den Kopf hebe, aber ich habe den Anfang verpasst: Kommt er gerade raus aus dem Haus oder geht er rein? Besser ich beeile mich! Ich laufe über die Straße so schnell es eben geht, und rufe „Excuse me!“ „Excuse me! Mister!!! Do you kow…?” Wieder sage ich meinen Spruch auf. Schnell schiebe ich ein paar französische Brocken hinterher: “Terminal du Bus!“

„Metro ou büüüs?“ fragt der Femde und mir bricht der Schweiß aus. Ein anderer Franzose und ich spreche kaum seine Sprache. Ich verfalle in einen
Deutsch-Soldaten-Befehlston: „No! Bus! Far distance!“
Das hier muss jetzt schnell gehen. Er muss schnell verstehen und ich brauche schnell eine Antwort.
Meine Augen werden weit, als ich sie höre. Ich gehe seit 15 Minuten in die falsche Richtung! Und nun soll ich 20 Minuten lang zurücklaufen? Ich habe die Zeit nicht! Mir schießt ein andere Zahl durch den  Kopf: 120! Es sind 120 kanadische Dollar, die ich verliere, wenn ich meinen Bus verpasse.

„Ok“, rufe ich. „Haben sie ein Auto? Können sie mich da hinfahren? Ich zahle.“

Er stutzt. Erst jetzt fällt mir auf, dass er einen Kuchen in der Hand hält. Ich schaue auf den Kuchen, er schaut auf den Kuchen. Er sagt: „Moment“ und geht ins Haus hinein. Währenddessen mache ich draußen auf der Straße einen Luftsprung vor Wut über mich selbst. Was stand doch gleich in meinem letzten Arbeitszeugnis? „Ist gut organisiert.“ Aber diesmal habe ich mich mal so richtig verschätzt. Naja, ich hätte einfach nur die Karte richtig lesen müssen…

„Es war ein grosser Fehler, so spät losgzugehen“, sage ich zu dem Mann, „als er wieder aus dem Haus kommt.“ Es soll eine Entschuldigung sein, dafür, dass ich ihn nun so dreist vom Fleck weg engagiere und er eigentlich gar nicht anders kann, als mir zu helfen, denn die Kanadier sind halt so: Immer freundlich! An diesem Image will auch er nicht kratzen.

Er zielt mit seinem Autoschlüssel auf mich. Das Heck des großen weißen Wagens neben mir öffnet sich plötzlich. Ich verstehe. Wie ein Karatekämpfer seinen Gegner lasse ich meinen Rucksack über den Rücken in den Kofferraum rollen. Wir sagen kein Wort, jeder weiß was er zu tun hat. Er geht zur Fahrertür, ich gehe zur Beifahrertür, schnell räumt er ein paar Stangen aus dem sonst tadellos aufgeräumten Fußraum nach hinten. Ich warte, bis er fertig ist, bedanke mich, setze mich neben ihn. Dann geht es los – in genau die entgegengesetzte Richtung, aus der ich gekommen bin. Über die Kreuzung, vorbei an der Metrostation, an der ich vor einer halben Stunde ausgestiegen bin, durch eine Unterführung hindurch. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte all das noch in der verbleibenden Zeit laufen müssen… Ich hatte keine Chance.

Wir plaudern. Sein English ist bröselig, mein Französisch nicht besser. Ein Wunder, dass er alles verstanden hat, als es darauf ankam. Er ist wahrscheinlich Führungskraft oder so was.
Ich verstehe, dass er im Büro nur französisch spricht. Er versteht, dass ich Journalistin bin, nach New Brunswick fahre und auf einer Farm recherchieren will. „Maple Sirup Harvest“ versteht er nicht.
Dann sind wir da. Natürlich weigert er sich, mein Geld anzunehmen.

Dem nächsten, der mich auf der Straße anbettelt, werde ich fünf Dollar in den Pappbecher werfen.

3 Replies to “Kurzschluss in Montréal”

  1. Hallo Uta,
    schoen von dir zu lesen!
    Bist du noch im hohen Norden unterwegs?
    Bei mir war viel los die letzten Wochen – Jagd, Wintervorbereitungen. Und Marc ist verstorben.
    Ich hoffe es geht dir gut und du triffst weiterhin auf viele liebe Menschen! 🙂
    Luisa

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    1. Liebe Luisa,

      schön, auch von Dir zu lesen.
      Ich war nur zwei Wochen im September im Yukon.
      Es war wunderbar!
      Im Moment ist die Deutsche Melanie Vogel bei euch da oben unterwegs. Sie läuft seit zwei Jahren durch Kanada.
      Weiß nicht genau wo sie ist, aber vielleicht bräuchte sie eine Übernachtungsmöglichkeit, wenn sie bei euch vorbeikommt.
      soll ich mal den Kontakt vermitteln?
      https://www.betweensunsets.com/

      Das mit Marc tut mit sehr leid! Irgendwie hatte ich wohl nicht wirklich damit gerechnet, dass er stirbt. Ich dachte, es geht ihm nicht gut, aber er bleibt seiner Familie erhalten 😦

      Ich hoffe, es geht euch gut und ihr genießt euer Leben. Ich hatte ein episches Abenteur in Churchill, es war einfach wunderbar und bin nun gerade in Winnipeg.

      Liebe Grüße, Uta

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      1. Churchill ist bestimmt super spannend, da bin ich schon sehr gespannt, ob du einen Beitrag darueber verfasst.

        Melanie scheint noch gut 1400 km entfernt zu sein, aber sie legt ein gutes Tempo vor! 🙂 Vielleicht laeuft man sich tatsaechlich ueber den Weg.

        Hast du schon weitere Plaene „nach“ Kanada oder bist du ganz im Jetzt?

        Liebe Gruesse nach Winterpeg 🙂
        Luisa

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