Wie er da sitzt, während er seine Suppe löffelt, die schwarze Schale in der Hand: einen Fuß eingewinkelt, die Beine ein wenig verdreht. Als fehlte ihm die Kraft, sie gerade zu halten. Nein, er sieht nicht aus, wie einer, der 39 Jahre alt ist. Nicht wie ein gestandener Mann. Er sieht sehr jung aus. Als habe er gerade erst die Uni abgeschlossen. Es ist enorm, dass so ein Mensch solch eine Last durchs Leben trägt. Wie eine Ameise, die einen sehr großen Stein auf dem Rücken hat. Ziemlich einsam geht er durch dieses Leben, hier in seiner Werkstatt, in der er auch wohnt, wovon niemand etwas wissen darf, zumiendest nicht die Behörde seiner Kleinstadt. Es ist nämlich gar nicht erlaubt, hier draußen zu wohnen, im Industriegbeit. Aber Daniel sagt: „Ein Zimmer im Ort würde mich 400 Dollar extra kosten und ich bin ja sowieso meistens hier.“ Also schält er sich morgens aus seinem Schlafsack, der auf dem staubigen Boden liegt.
Man sieht Daniel sein karges Leben an. So karg wie die Oberflächen der Metallregale, die um ihn herum stehen. Er ist dünn; seine Haut, lederartig, liegt straff auf den Wangenknochen. An einer Metallkommode neben dem Schlafsack hängt ein Plan: „100 Situp`s, 100 Flicflacs“. Daneben 365 Kästchen. 53 Häkchen hat er schon gemacht, Lücken gibt es keine. In den Metallschubladen liegen Tüten mit Samen und Nüssen, daneben steht ein 70-Liter-Papiersack mit Haferflocken. Dieser Mann trinkt keinen Alkohol, isst kaum Fleisch, meidet Süßes. Er schenkt sich nichts. Er will fit sein für seine selbst gestellte Aufgabe. Es verwundert, als er von einer Romanze erzählt, die er im Sommer hatte. Sie ist schon wieder zu Ende. Er hat nach einer Zukunft gefragt, das Mädchen hatte keine Antwort.
Zum Aufwärmen in die Bibliothek
„Wie haben sich Deine Eltern kennen gelernt?“, wird er später fragen. Da ist es fast halb zwei Uhr nachts. Ich habe mich gerade auf meinem Pappkarton unter meinen drei Decken eingerichtet und bin bereit, zu schlafen. Hier liegen wir nun also, mitten im Industriegebiet. Es riecht ein wenig nach Öl und Staub. Kein Wunder, der ist überall. Wie ein Storch habe ich mich hier oben auf der Holzgalerie bewegt, auf die er sich zum Wohnen, oder das was er dafür hält, zurückzieht. Meine Tasche steht jetzt auf dem Tisch, dem einzig sauberen Ort an diesem Ort. Wie kann man nur so leben?, schießt es mir immer wieder durch den Kopf. Beim Geschirr spülen hat er mir etwas verlegen gestanden, dass er nur einmal in der Woche duscht. „Hier gibt es ja nur ein Klo und das Waschbecken. Aber gestern war ich extra in den Umkleideräumen von der Uni-Turnhalle“, versichert er.

Als ich am Nachmittag angekommen bin, hat mich mein Couchsurfinggastgeber erst einmal hierhergefahren und einen Topf Suppe auf seinem Gaskocher aufgewärmt. Wir haben uns lange unterhalten, aber irgendwann waren wir so ausgekühlt, dass wir in die Bibliothek gefahren sind. Sie ist praktisch Daniels Wohnzimmer, hier warten Internet, gepolsterte Stühle und Wärme auf ihn. Während ich meinen Bus nach Québec City buche, tippt er etwas in sein Smartphone. „Wie würdest Du Deinen Idealpartner mit einem Wort beschreiben?“ Ich schaue hoch. „Bist Du auf einer Datingplattform?“ Er nickt. „Hmmm“, mache ich. Und noch mal: „Hmmm.“ Nach einer Weile sage ich: „Weltenbürger“. Und Du? „Easygoing.“
Schlafen auf Pappe
Apropos „going“. Irgendwann müssen wir gehen. Es führt kein Weg dran vorbei. Es ist spät und ich wirklich gespannt, wo in der Arbeitshalle ich schlafen soll. Noch mehr Bedenken habe ich wegen der Kälte, ich bin immer noch nicht wieder warm geworden.

Mittlerweile befinde ich mich wieder auf der hölzernen Galerie. Ich habe mich auf meinem Schlaflager eingerichtet. Unten stehen schwere Maschinen, hier oben, in der Dunkelheit, erheben sich rechts von mir ein Tisch mit zwei unterschiedlichen Stühlen und links ein Metallregal mit Ordnern, Wollpullis und Flanellhemden. Es ist gemütlicher als ich befürchtet hatte. Unter einer Decke mit Ölflecken, die mir Daniel gegeben hat, habe ich meinen Seidenschlafsack ausgebreitet. Es ist kein richtiger Schlafsack, mehr ein Inlet, aber er heizt jedes Lager um mindestens sieben Grad auf, verspricht das Etikett. Es scheint zu funktionieren. Ein zugeschraubtes Marmeladenglas mit heißem Wasser hat sein Übriges getan, kurz bevor ich unter die Decken am Boden geschlüpft bin.
Und dann höre ich also Daniels Stimme, die jetzt von der anderen Seite des Tisches durch die Dunkelheit an mein Ohr dringt. „Wie haben sich Deine Eltern kennen gelernt?“ Oh Mann, denke ich. Wie kommt er jetzt da drauf? Aber ich erzähle ihm die Geschichte. „Oh, man!“, sagt er. „Oh man“. Das sagt er immer, wenn ihn etwas zum Grübeln bringt. Dabei sagt er eher „määän“ als „man“. Kurz ist es still, dann höre ich ihn wieder: „Deine Mutter hat also keinen Ehering getragen, als sie Deinen Vater kennen gelernt hat? Sonst hätte der ja gleich gesehen, dass sie verheiratet ist.“ Hmmm. Hatte ich nie drüber nachgedacht. Stimmt eigentlich.
Im Schutze der Dunkelheit
Da liege ich also. Daniel hinten in der Ecke. Wir haben heute schon so viel geradet, aber jetzt, da wir eigentlich schlafen wollen, stellt er mir im Schutz der Dunkelheit diese Frage. Um halb zwei Uhr nachts! Manchmal stehe er um diese Zeit auf, hat er mir vorhin erzählt. Weil ihn die Angst aus dem Bett treibt. „Weil ich Angst vor dem Moment habe, wenn am nächsten Tag der Wecker klingelt. Da bleibe ich lieber gleich wach.“ Er lege dann mitten in der Nacht den Schalter um, erzählt er, und lese, nachdem die Neonröhren an der Decke seines Hangars angegangen sind. Dabei bleibe er in seinem Schlafsack sitzen, um nicht auszukühlen.
Daniel hat sich vor drei Jahren selbstständig gemacht. Er ist Industriemechaniker und irgendwie hat es in keiner Firma so richtig gepasst mit den Kollegen. „Auf der Arbeit haben sie sich angeschrien, wir hatten Zeitdruck und einmal haben wir sogar Teile für das amerikanische Militär gebaut.“ Das wollte er alles nicht mehr. Er fuhr mit dem Auto herum. Ein Typ, den er irgendwo am Straßenrand einsammelte, erzählte ihm, wie nett es in Bridgewater sei. Daniel fuhr hin, mietete die Werkstatt an, kaufte Maschinen. Jetzt hat er Schulden und Angst davor, dass ihm jemand seine Idee mit dem Kompostverteiler für Traktoren klaut. Jemand, der das Geld und die Ressourcen hat, sie sofort in Serie zu bauen und zu vermarkten. Dabei ist dieser Kompostverteiler seine Erfindung. Er will keine Teile für irgendein Militär liefern, er will Maschinen für die Landwirtschaft bauen, am Besten für die ökologische.
„It´s not easy to be an adult”
Das macht in den Augen
dieses Mannes mit den Wollpullis und den ausgelatschten Birkenstocks Sinn und
all die Mühe wert, all die schlaflose Nächte. Er sagt: „It´s not easy to be an adult.“ In seinem Kopf schwirren so viele Dinge
gleichzeitig umher, dass er sich das Diagramm eines Coach` neben den Computer
gehängt hat, eine Anleitung zum effizienten Abarbeiten der Aufgaben, die
täglich anfallen – im Büro und in der Werkstatt. Daniel ist nun nicht mehr nur
Industriemechaniker. Er muss auch Marketingexperte sein, Verkäufer, Networker.
Wenn er nur genügend Geld hätte, mit seiner Erfindung in Serie zu gehen…
Wie schnell geht es voran mit dieser Firma, die aus ihm und seinen drei
Maschinen in einer Wellblechhalle besteht? „Nun, ich finde mich so oft
außerhalb meiner Komfortzone wieder, dass sie schon ordentlich wächst“, sagt
er.
Tapfer beantwortet er all meine Fragen, auch wenn es ihm manchmal schwer fällt, über sein Unternehmen zu sprechen. Immerhin ist es Freitagabend und am liebsten würde er einmal alles vergessen. Dann sagt er so Sätze wie: „Lass uns jetzt in die Bibliothek fahren“, anstatt mir zu antworten und zieht seine Jacke an. Doch auch er ist neugierig. Von der ersten Minute an stellt er mir Fragen, die nicht nur an der Oberfläche kratzen, sondern tief gehen: „Welches ist der Beste Artikel, den Du je geschrieben hast?“ oder: „Wo lernst Du Freunde kennen?“ Dann fragt er mich nach meinen Liebesgeschichten aus. Ich erzähle ihm von meiner gescheiterten Beziehung. Schonungslos. Mit allen Details, die auch auf mich kein gutes Licht werfen, immerhin habe ich meinen Freund betrogen. Was soll`s. Morgen sehe ich diesen Daniel nie wieder. Und auch jetzt sehe ich ihn nicht. Die Neonröhren sind ja schon ausgeschaltet, in dieser Lagerhalle. Da fällt es leichter, zu reden.
Nachtgeflüster
„So“, denke ich. Jetzt stelle ich Dir aber auch mal
eine intime Frage: „Was ist mit Deinem Vater?“, sage ich laut. „Von dem hast Du
noch gar nichts erzählt.“ „Oh“, sagt Daniel. Das määän lässt er diesmal weg.
„Der ist tot.“ Kurz horche ich seinen Worten nach. Er sagt es recht ruhig, ich
habe das Gefühl, ich darf noch ein bischen weiter fragen. Ich finde heraus,
dass Daniel erst 17 Jahre alt war, als es passiert ist. „Wow“, sage ich. „Das
muss ganz schön hart für Dich gewesen sein.“ Und dann passiert etwas Unerwartetes.
Ein bischen lauter als zuvor, etwas quäksig, etwas höher und sofort kommt Daniels
Stimme wie eine Pistolenkugel zurückgeschossen. „Oh nein, es war das Beste, was
passieren konnte!“
Meine Augen werden weit. Was?
„Gab es Probleme?“
„Kann man so sagen.“
„Waren Deine Eltern noch zusammen?“
„Ja, aber sie wären es besser nicht mehr gewesen.“
„Sie haben gestritten?“
„Er hat es meiner Mutter ganz schön schwer gemacht. Er hat zuletzt nicht mehr
gearbeitet und viel getrunken.“
„Innerlich hole ich Anlauf, dann stelle ich die letzte Frage: Woran ist er
gestorben?“
„Er hat sich umgebracht.“
Ich sage nichts mehr. Für
ein Weile ist es still. Dann ertönt wieder Daniels Stimme. „Hast Du manchmal
ein schlechtes Gewissen?“, fragt er. „Weil Du Deinen Freund betrogen hast?“
„Ja“, sage ich. Ich rede noch ein wenig davon, wie das damals war. Die Worte steigen
zur Decke des Hangar auf. Ich habe das Gefühl, sie lösen sich von mir los und
fliegen davon. Vielleicht war es gut, das alles einmal zuerzählen. Ob ich jetzt
noch schlafen kann? Ich bin etwas aufgewühlt. „Daniel?“ sage ich in die
Dunkelheit hinein. Dann noch einmal, etwas lauter: „Daniel!“ Er ist eingeschlafen.
„Oh, määän!“