„Ich gehe in kein Shelter, no way, kommt nicht in Frage.“ Meine Stimme klingt bestimmt. Und zum Schluss wird sie leiser. Das fällt mir selbst auf. Für ein paar Sekunden sehe ich mich aus der Vogelperspektive und komme mir vor wie die Hauptfigur in einem sehr schlechten, sehr frustrierenden Dokumentarfilm auf Sat-1 über Obdachlose. Darüber, wie ein Mensch sinken kann. Tief.
Meine Stimme ist leiser geworden, denn in dem Moment, in dem ich das sage – „Ich gehe in kein Shelter, no way, kommt nicht in Frage“ – weiß ich schon: Ich stehe mit dem Rücken zur Wand. Mein Handyakku ist fast leer, mein Geldbeutel auch, mein Konto erst recht, meine Kreditkarte gesperrt, was ich seit vier Stunden weiß. Was war passiert? Die Frau der 24-Stunden-Hotline von Barclay erklärt es mir: Kreditrahmen überzogen. „Ah, denke ich, Overkill. Es war definitiv too much, vor fünf Tagen auch noch eine Bahnfahrt quer durch Kanada für 530 Dollar zu buchen.“ Der Flieger hätte nur die Hälfte gekostet, nun hat mir mein Faible für die Umwelt finanziell das Genick gebrochen.
Kreditkarte gesperrt
Ich bleibe nett zu der Dame am anderen Ende der Leitung und widerstehe dem Drang, den Überbringer schlechter Nachrichten zu köpfen. Nach dem Anruf Kassensturz: Mein kanadisches Konto ist leer, meine Kreditkarte blockiert. Ich habe noch 45 kanadische Dollar in bar, die Fähre zu meinem nächsten Ziel, einer kleinen Insel (ein paar 1.000 Eiwohner) kostet laut Internet 17 Dollar. Das geht sich aus. Nick, der Farmer, der den Laden, in dem ich im Sommer gearbeitet habe, mit Eiern beliefert, wird mich am Hafen abholen. So ganz genau haben wir noch nicht über meinen Status auf seinem Hof verhandelt – entweder werde ich für 15 Dollar die Stunde arbeiten oder ich helfe halbtags mit und komme kostenlos unter. So oder so, ich werde dort kein Geld brauchen und kann in Ruhe mein Kreditkartenproblem lösen, was realistisch ist, denn ab und zu kommen für meine Zeitungsartikel ein paar hundert Euro auf meinem deutschen Konto an.
Den ganzen Tag über komme ich mir vor wie ein Segelflieger. Langsam gleite ich auf den Flughafen zu, ohne einen Tropfen Sprit zu verbrauchen – fast jedenfalls und ich werde tatsächlich weniger benötigen als gedacht, für die Fähre zahle ich wider Erwarten nur zehn Dollar.
„Jackpot!“, denke ich, „das Glück ist mal wieder auf meiner Seite.“ Ich lehne mich entspannt in den Sitzreihen im Wartesaal zurück, ärgere mich über den Geruch, der ab und zu von den Obdachlosen (Anmerkung), schräg gegenüber herüberweht, und frage mich, was zur Hölle sich da in der Reisetasche bewegt, die sie neben ihren Füßen abgestellt haben.
Dann die Lautsprecherdurchsage: „…hat eine Stunde Verspätung, wir bitten um Entschuldigung.“ Ich texte Nick. „Komme erst um 21 Uhr an.“ Kurz überlege ich, ob ich ein kanadisches „Sorry“ hinterherschicken soll, Farmer gehen ja gerne früh ins Bett. „Oh nein!“, schreibt Nick und: „Ok, sag Bescheid, wenn Du auf der Fähre bist.“ Als es soweit ist, habe ich nur kurz Empfang, doch die Nachricht geht raus.
Die Extrazeit nutze ich dazu, herauszufinden, was sich in der Tasche bewegt. Es ist eine Ratte.
Wo ist der weiße BMW Geländewagen?
Der Hafen, ein kleiner geteerter Platz, liegt dunkel da, doch nicht verlassen. Ein paar Scheinwerfer wartender Autos erhellen den späten Abend, einen weißen SUV BMW X3 aber suche ich vergebens. „Just arrived“ tippe ich ins Handy und stelle mich unter das Vordach eines Restaurants – es regnet in Strömen. Zwei Stunden später, ich habe dem Hühnchenfarmer noch mehrmals getextet und versucht ihn anzurufen, frage ich die Jungs, die hinten in der Restaurantküche arbeiten, ob sie ihn kennen, denn mittlerweile habe ich herausgefunden: Google weiß nichts von ihm. Ein schlechtes Zeichen, wie ich finde, und ich habe recht. „Nie von ihm gehört“, sie schütteln den Kopf. Und nun kommt der Moment, in dem ich um Hilfe bitten muss – auf meine Weise: „Ich bin fast pleite und weiß nicht, wo ich heute übernachten soll.“ Da mich keiner der drei zu sich nach Hause einlädt, was in Kanada nicht ungewöhnlich wäre, höre ich mich kurz darauf sagen: „Ich gehe in kein Shelter, no way, das kommt nicht in Frage.“ Kian, der es vorgeschlagen hat, zuckt zurück, irgendwie beleidigt. „Es ist das beste Shelter, das ich je gesehen habe. Es gibt Frühstück und die Obdachlosen da sind echt nett. Ist doch völlig ok, dass man da mal hinmuss. An dem Punkt waren wir doch alle schon mal.“ – „Hmm“, denke ich. „Da wäre ich mir nicht so sicher.“
Und trotzdem – an diesem Abend horche ich immer wieder in mich hinein: Will ich jetzt gerade wer anders oder woanders sein?
Nope.
Kurz vor Mitternacht fährt mich mein neuer Freund in einer Art rollender Rumpelkammer, in der er auch schläft, zu einem kleinen Holzhaus am Hang. Meine zukünftigen Mitbewohner begrüßen uns freudig; sie hoffen, wir haben Kippen dabei. Kian tut es total leid, dass er nur Gras anbieten kann.
Fünf Minuten später befinde ich mich in der Obhut von Adrea, einer molligen, Wärme ausstrahlenden Frau mit weißer Hochstecktfrisur und Strickjacke. Sie bedauert mich, verflucht Nick und bezieht ein Kopfkissen für mich. Ich spreche besonders deutlich und wähle die Worte mit Bedacht. Ich will, dass sie merkt, dass ich nicht eine von denen bin; eine von denen hier, die es nötig haben, in so einem… Etablissement zu schlafen. Und zugleich muss ich an die Bewohner des Obdachlosenheims denken, in dem ich nach meiner Schulzeit gearbeitet habe. Da gab es auch diese Gestalten, die durch ausgewählte Redewendungen und ihr zur Schau gestelltes Halbwissen überspielen wollten, wer sie wirklich sind. Andrea jedenfalls fällt drauf rein, sie verspricht mir einen Premiumplatz, ganz oben auf einem der Dreietagenbetten, die es hier geben soll.
Gebrauchte Spritzen
Zähneputzen, der Mülleimer für gebrauchte Spritzen hängt praktischerweise gleich neben dem Badezimmerspiegel, dann werde ich ins Allerheiligste geführt, einen dunklen Raum, in dem sich die Schatten zweier sehr hoher Betten erheben. „Vorsicht!“, raunt Andrea und deutet in die Schwärze. Zu unseren Füßen liegen Gestalten in Schlafsäcken, dazwischen ein paar schlafende Hunde. Es kruschelt, wispert, pfeift und schnarcht. „Da oben ist es“, flüstert die Herbergsmutter und ich will gerade die Leiter erklimmen, als sich ein Schatten von meiner Matratze erhebt. Mit angewinkelten Beinen, einer Heuschrecke gleich, hockt da oben ein Wesen, beugt den Oberkörper weit zu uns hinunter und keift: „Don´t smoke fucking Crack, Andrea!“ „Who smokes Crack?“, fragt sie zurück und schubst mich nach oben. „Just go“, flüstert sie, doch ich will nicht mehr. Soll ich mir etwa das Bett mit diesem Glöckner von Notre Dame da oben teilen? Macht man das so in kanadischen Obdachlosenheimen? Es folgt eine für einen Schlafsaal recht laute Diskussion darüber, wer Crack raucht, ob Andrea eine gottverdammte Hure ist und wem heute Nacht die Gummimatratze im dritten Etagenbetten-Stock an der Westseite des Wohnheims gehören wird. Den Kampf entscheidet Andrea für sich – oder vielmehr: für mich. Am Ende springt die Figur keifend die Leiter hinunter und verschwindet langbeinig in der feuchten Dunkelheit der Nacht.
„Wo bist Du?“ Ich drücke mir gerade Ohropax in die Gehörgänge, da leuchtet mein Handy auf. „So sorry, ich bin eingeschlafen.“ Wie ich vermutet habe. Vollpfosten! Ja, wo bin ich? Bis morgen muss ich mir noch eine Antwort ausdenken. Ich schalte das Smartphone aus, das heute sicher ein wenig cleverer war als ich in den vergangenen Tagen.
Am Morgen frühstücke ich im Stehen im Flur, wo ich andauernd mit dem Personal verwechselt werde. Das gefällt mir. Wenn ich nicht gerade den Weg zum Sozialarbeiter weise oder jemandem ausweiche, der zur Dusche oder aufs Klo will, studiere ich das Neueste am schwarzen Brett. Jemand hat ein Stück Papier drangepinnt, auf dem steht: „In ein paar Tagen feiert die ganze Welt das Fest einer Familie, die einst obdachlos war.“
Anmerkung: Vancouver und die Inseln vor der Westküste sind Hotpsot für Kanadas Drogensüchtige und Obdachlose. Nur hier können sie auch im Winter draußen übernachten, ohne zu erfrieren.